Zur ästhetischen Signatur religiöser Bildungsprozesse
Gütersloh/Freiburg (Gütersloher Verlagshaus/Herder) 2002 (= Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft Bd. 2, hg. von H.-G. Ziebertz, F. Schweitzer, R. Englert, U. Schwab)
In der Religionspädagogik wird mit einem stark kognitiven Bildungsbegriff gearbeitet, der sich tendenziell als Erziehungsdenken darstellt. Ein Bezug auf einen angemessenen Religionsbegriff ist kaum auszumachen. Individuelle religiöse Einstellungen bleiben darum weitgehend unberücksichtigt. Und Bildung ist mehr und anderes als Wissen, Information und Problemlösungsfähigkeit. Bildung bleibt in ihren Möglichkeiten unausgeschöpft; das „Bildungsdilemma“ der Kirche und der oft zitierte religiöse „Tradierungsabbruch“ finden so keine angemessenen Antworten.
Erst die Rekonstruktion des klassischen Bildungsbegriffs ergibt eine (bisher deutlich unterschätzte) Basis für eine fundierte religionspädagogische Bildungstheorie. Sie wird vor allem an Meister Eckhart, Humboldt, Schiller, Schleiermacher vorgenommen. Hier kommt ein ästhetisch konturiertes, d.h. auf sinnliche Wahrnehmung bezogenes Verständnis von Bildung in den Blick, das für aktuelle Fragestellungen anschlussfähig ist. Bezüge zur Religion ergeben sich, wo sie nicht ausdrücklich sind, implizit.
Neue Theorieelemente aus dem Bereich der philosophischen Ästhetik – etwa Überlegungen zu „Wahrnehmung“, „Atmosphäre“, „Resonanz“ und innerem „Bild“ – und Einsichten der modernen Hirnforschung lassen sich als zeitgemäße Bestätigungen und Weiterführungen der Klassiker lesen. Bildung hat eine ästhetische Signatur.
Eine ästhetische Signatur kann nun grundlegend auch für Religion plausibel gemacht werden. Sie zeigt sich in deren bildlicher Codierung, ihrer poetischen Sprache, ihren kultischen Inszenierungen und ihrem engen Verhältnis zur Kunst. So ergibt sich eine überraschende Parallele: Bildung und Religion sind struktur-ähnlich. Diese Einsicht kann für die religionspädagogische Strukturierung religiöser Bildungsprozesse fruchtbar gemacht werden.
Für eine zeitgemäße Religionspädagogik sind – wie auch ein breiter neuerer Forschungsvorstoß zeigt – Bildung, Religion und Ästhetik im rekonstruierten Verständnis gleichermaßen konstitutiv. Religionsdidaktischer Grundgestus muss folglich eine Präsentation von und eine Beteiligung an Religion zum Zweck freibleibender Selbstbildung sein. Als Ziele einer so verstandenen religiösen Bildung ergeben sich individuelle Orientierung und religiöse Kompetenz.