Kirchen-Krise

Schiffbruch mit Beibooten

Über Misere und Perspektiven kirchlicher Arbeit

 

  1. Religion!

Die Kirche ist nach wie vor ein Ausnahmeort in unserer Gesellschaft. Schon deshalb, weil nirgendwo sonst so viele wirklich ausstrahlungsstarke Menschen arbeiten. Weil hier ein Ort ist, der sich zäh jeder modernen Funktionalisierung entzieht und allein dem Leben dient. Die biblischen Erzählungen, die Psalmen, die Gleichnisse Jesu, die wunderbare Kirchenmusik, die oft einzigartigen Sakralbauten und vieles mehr sind eine uralte und bewährte Sphäre der Alltagsunterbrechung und der Besinnung auf das Wesentliche.

Die Kirche steht heute einer Zivilisation gegenüber, in der das Leben immer ausschließlicher an Funktionen gemessen und die Wirklichkeit in Form von naturwissenschaftlichen Berechnungen begriffen wird. Damit erhält das Leben Freiheit und Wohlstand – aber es verliert auch immer mehr, was eigentlich seinen Reichtum und seine Schönheit ausmacht. Bildung, Liebe, Kunstgenuss, Naturverbundenheit, Freundschaft, Moral, Frieden: das lässt sich gerade nicht in Form von Daten und Berechnungen begreifen. Wer eine einschneidende Schmerzerfahrung macht, wer den Sinn seines Lebens verloren hat, einsam oder zerstritten ist oder wer sich verliebt, dem nutzen keine Berechnungen und keine Technik. Diese Problemlage spiegelt sich in den modernen Erschöpfungs- und Sinnlosigkeitserfahrungen. Unzufriedenheit, fehlende Lebensfreude, Einsamkeit, Burnout und ein geradezu epidemisches Anwachsen der Depression bezeichnen eine seelische Destabilisierung, deren Ausmaß ähnlich gravierende Folgen haben dürfte wie die soziale Schere und die sich anbahnende Klimakatastrophe.

Es sind vor allem die grundlegenden Existenzerfahrungen und existenziellen Fragen, die zunehmend jedem Einzelnen überlassen bleiben. Immer mehr bleiben Leiden, Glückssuche, die Wahrnehmung der eigenen Lebenszeit, die Frage nach einem erfüllten Leben und nach der Liebe, nach der eigenen Person und dem Sinn des Lebens, Befreiungserfahrungen und religiöses Erleben ohne Sprache und ohne Ausdruck. 

Nichts wäre in dieser Sicht wichtiger für den modernen Menschen als Religion. Denn in der Religion werden die Grundfragen des Lebens in einem reichen Formenschatz thematisch. Das Christentum erweist sich mit seiner ausgesprochen nüchternen Sicht auf den Menschen nicht nur als eine kluge, sondern auch modern anschlussfähige Religion. Die Realistik der Bibel im Blick auf den Menschen ist beispiellos; ebenso ist es das Wissen um Sünde und Gnade oder das Weltverständnis einer guten Schöpfung, eines wohlwollenden Gottes, und vor allem ist es das Wissen um die Präsenz Gottes in jedem Augenblick des Lebens – das Wissen darum also, dass wir im Reich Gottes leben. Freilich: das ist eine andere Sicht des Christentums als die des alten Bekenntnisglaubens, der um Sünde, Erlösungsbedürftigkeit, Sühnetod, himmlischen Herrscher-Christus, Trinität und Endgericht kreist. Darauf komme ich noch zurück. So oder so aber: das Christentum hat viel zu bieten.

Auch Philosophie und Kunst kreisen um die großen Lebensfragen. Die Philosophie stellt rationale Überlegungen an, die nicht jedermanns Sache sind. Die Kunst stellt in Literatur, Drama, Gemälde und Musik die tiefen Erfahrungen des Lebens dar. Den größten Reichtum an Symbolen, Geschichten, Räumen, Ritualen und Interpretationen bietet aber die Religion – sie hat in der Theologie Anteile an Philosophie und in ihrem Ausdruck einen großen Formenreichtum an Kunst. Sie ist ein lange bewährtes Reservoir für Kraft und Geborgenheit und für die Besinnung aufs Wesentliche. Die Kirchen, die diesen Schatz hüten, sind die einzigen öffentlich zugänglichen Orte für solche Lebens-Kommunikation. Hier muss man keine Kenntnisse vorweisen und keinen Eintritt zahlen. Und eine Kirche steht in jedem Dorf.

Man kann auch ohne Religion leben – sicher. Man kann auch ohne Freundschaft leben, ohne Liebe und ohne Sinn für Schönheit. Das Leben verliert damit aber gerade das, was es wertvoll macht. 

 

  1. Kirche – ein Schiffbruch

Das Wissen der Religion bleibt allerdings unter Verschluss. Viele wenden sich daher von der Kirche ab, oft von Religion generell. Die Kirche, die man schon immer gern mit einem Schiff verglichen hat, scheint leck geschlagen und langsam zu sinken. Der Schiefstand ist inzwischen offen zu sehen: Kirche erleidet Schiffbruch, es kündigt sich deutlich ein Kipppunkt und ein Ende an. Dass es so weitergehen wird wie vielen Jahrhunderte bisher, mag die Illusion der Kirchenleitungen und insbesondere der mächtigen katholischen Kirche sein; aber das glaubt außerhalb der Kirche kaum noch jemand. Auch innerhalb glauben das immer weniger.

Der Vertrauensverlust ist drastisch: umstandslos und durchgehend wird „Kirche“ mit den Alten und Schwachen assoziiert, zu denen man nicht gehören will – scharf formuliert also zur sozialen Rest- und Absteigerverwaltung. Das ist das glatte Gegenteil der modernen Lebensideale: Selbstverwirklichung, Erlebnisorientierung, Konsum und Status. Die Kritik setzt damit erheblich tiefer an als bei den viel besprochenen Missbrauchsfällen. Diese sind eher Symptom als Ursache der sich ausweitenden Krise. 

Man mache sich einmal klar, was nirgendwo bisher thematisiert wird: die Kulturprägung des Christentums ist inzwischen bei Null angelangt. Das dürfte das eigentliche Fatale sein, denn ein Ausscheren aus der kulturellen Entwicklung bedeutet auf kürzere oder längere Sicht auch ein existenzielles Ende. Das einst mächtige Christentum, das die Kultur in allen Fasern durchdrungen hat, hinterlässt mittlerweile in Kunst und Leben keinerlei sichtbare Spuren mehr. Von der Documenta bis hin zur Popmusik werden allenfalls noch christliche Gedankensplitter zitiert, und wenn, dann ironisch. Bei Themen wie Erfüllung, Schmerz, Lebenssinn werden keine Bezüge zu christlichen Deutungen mehr hergestellt. ((Hervorhebung Anfang))In Möbelgeschäften kann man Buddhastatuen kaufen – christliche Embleme ganz sicher nicht.((Hervorhebung Ende)) 

Unter den Intellektuellen gilt die Kirche als altbacken und geistig öde. Im Volk ist die Distanz erheblich. Nur noch weniger als die Hälfte der Deutschen sind Kirchenmitglieder, und der Schwund hält nicht nur an, sondern er verstärkt sich. Zu einem absteigenden Verein will man nicht gern gehören; das ist nicht anders als beim Fußball.

Im Ansehen der Berufe standen über Jahrzehnte immer der Arzt, der Professor und der Pfarrer an den obersten Stellen. Der Pfarrer ist seit einigen Jahren an Stelle 10 gerückt, hinter die Taxifahrer. „Glauben“ gilt fast durchgehend als Ausweis persönlicher Schwäche. Kennmarken des Christlichen wie Dogma, Predigt, Offenbarung, Glaube sind heute negativ assoziiert. An den großen und traditionsreichen theologischen Fakultäten versiegt das Interesse am Theologiestudium. In Göttingen haben im letzten Wintersemester gerade einmal 7 (!) Studierende begonnen. 

Warum schrillen da in Kirchenleitung und Gemeinden nicht alle Alarmglocken? Nervöse Hektik, erhitzte Debatten und der Wille zum Anpacken und Umkrempeln? Fehlanzeige. Die kirchenpolitisch Verantwortlichen schwanken zwischen Traditionalismus, harmonischer Gemütlichkeit und hyperadaptiver Ängstlichkeit. Als einer der wichtigsten „Erfolge“ gilt, dass die Kirche in öffentlichen Medien vorkommt, auch wenn sie dort nur noch einen verschwindend geringen Raum einnimmt. Da hilft es auch nicht, auf die Diakonie zu verweisen – ein längst finanzstarker Konzern, der eine angemessene Bezahlung von Pflegerinnen und Pfleger verhindert. Es hilft kirchenpolitisch auch wenig, ein Schiff zu chartern, um Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu retten, denn das Rote Kreuz kann so etwas besser machen. Hat die Kirche nicht vor allem eine religiöse Aufgabe? Dessen scheint man sich kaum noch bewusst zu sein. In der Kirche herrscht business as usual, wie das Altbundeskanzler Schmid bereits 2001 einmal deutlich auf den Punkt gebracht hat. Allenfalls ist eine gewisse Verunsicherung spürbar und der Wille zu „Strukturreformen“, also zum Sparen, Streichen und Zusammenlegen. Grundlegende theologische und strategische Überlegungen aber? Fehlanzeige. 

Religiöse Gewohnheiten haben eine starke Beharrungskraft. Sie lassen sich ungern kritisch anfragen, weil es hier um persönlich wichtige Erfahrungen, Prägungen und Einstellungen geht. Doch wenn Fragen zur religiösen Entwicklung, zu religiösen Erlebnissen oder spirituellen Techniken mit der Kirche gar nicht mehr in Verbindung gebracht werden, dann erledigt sie sich von selbst.

Diese Einschätzung ist nicht übertrieben: modernitätsoffene Christlichkeit meldet sich kaum noch zu Wort. Große Namen wie Zahrnt, Zink, Sölle, Thielicke gehören der Vergangenheit an. Inzwischen gilt das auch für Margot Käßmann. Wo gibt es heute einen bekannten und modern plausiblen Christen, den man in eine Fernseh-Talkshow einladen könnte? Vor allem aber: die breite Gruppe der „religiösen Sinnsucher“, die den empirischen Studien zu Folge inzwischen die größte religiöse Gruppe überhaupt darstellt, taucht auf dem kirchlichen Radar gar nicht mehr auf. Der Begriff „Religion“ wird im allgemeinen Sprachgebrauch inzwischen gemieden, weil offenbar noch zu viel Kirchengeruch daran haftet; lieber spricht man mittlerweile von „Spiritualität“.

 

  1. Warum das Kirchenschiff sinkt

Die Krise der Kirche, die sich derzeit deutlich zuspitzt, ist die Folge einer nicht gelungenen Transformation des Christentums in die Denkweise und Lebensauffassung der Moderne. Vor allem die Individualisierung, aber auch das religionskritische Denken – das Theologen wie Bonhoeffer, Bultmann und Tillich angemahnt und konstruktiv eingebracht haben – werden komplett übergangen. Kritische Bibelexegese, symbolisches Verstehen, Religionsdistanz haben in der Kirchenfrömmigkeit keinerlei erkennbare Spuren hinterlassen. Der modernen Grundorientierung zwischen Autonomie, Pluralisierung, Selbstverwirklichung und Netzwerken steht polarisierend eine Kirche gegenüber, die Tradition, Einheit und die Eingliederung ins bestehende System will. Sie ist in ihrer Tendenz vormodern, ebenso wie die Gemeindefrömmigkeit.

Die Kirche ist Expertin für ein vergangenes Christentum – nicht aber für die Religion der heutigen Individuen. Bibel, Dogma, Bekenntnis, Konzilsbeschlüsse, Reformation, Gottesdienstablauf: alles ist alt, oft uralt. Auch wenn es überspitzt klingen mag: die Kirche hat kein Interesse an den Menschen und ihrer Lebenswelt. Ihr Interesse gilt der Glaubenstradition, grundgelegt in Bibel, Bekenntnis und kirchlicher Lehrtradition. Ihre zentrale Aufgabe sieht sie in der Verkündigung (evangelisch) einer alten „Wahrheit“, die in den Alltag der Menschen immer neu übersetzt werden soll und im priesterlich geweihten Altarsakrament (katholisch). Damit erreicht man die Menschen allerdings schon lange nicht mehr. Im Gegenteil: wer heute alte Gewissheiten hütet, wird in der Regel als verbohrt und seelisch instabil eingeschätzt. 

Die Lebenswelt der Menschen kommt in dem, was Kirche tut, praktisch nicht mehr vor. Die wesentlichen Bestimmungsfaktoren des modernen Lebens zwischen Glücksmomenten, Erfolgsstreben, Sinnlosigkeitsgefühlen, Erlebniswünschen, Erschöpfung, Einsamkeit, Konsum und Depression kommen im kirchlichen Kontext praktisch nicht mehr vor. Der Auftrag der Kirche wird aus der eigenen Glaubenstradition abgeleitet, dieser fühlt man sich verpflichtet – nicht den Menschen heute, allen anders lautenden Selbstauskünften zum Trotz. Die aktuellen Reformversuche und Strategieüberlegungen der katholischen ebenso wie der evangelischen Kirche gehen mit beeindruckender Konsequenz an den religiösen Fragen, Bedürfnissen und Erfahrungen der Menschen vorbei. Für die Theologie gilt Entsprechendes: sie ist vergangenheitsorientiert und wenig mehr als christliche Kulturarchäologie. Die Religiosität heutiger Menschen stößt fast nirgendwo auf Interesse. 

Deutlich wird das auch darin, dass in Gottesdienst und Messe der Einzelne nirgendwo zu Wort kommt – weder mit seinen existenziellen noch mit seinen religiösen Erlebnissen und Fragen. Wer da (noch) kommt, bleibt fast immer von Anfang bis Ende passiver Zuschauer und -hörer.

Bei einer in allen Facetten nach vorn orientierten Lebenseinstellung der Gesellschaft (Erfolge, Projekte, Selbstverwirklichung …) ist die traditionalistische Rückwärtsorientierung der Kirche nicht nur unattraktiv geworden, sie wirkt – wenn sie überhaupt noch wahrgenommen wird – längst skurril. Dass diese Einschätzung nicht überpointiert ist, lässt sich durch drei Beobachtungen unterlegen: 

  1. Vor allem die evangelische Kirche tritt fast ausschließlich nur noch mit moralischen und ethischen Verlautbarungen oder Aktionen in Erscheinung, nicht mehr mit religiösen. 
  2. Es gibt eine deutliche Tendenz des kirchlichen Leitungshandelns in Richtung evangelikalen Christentums. Offensichtlich orientiert man sich an denen, die mit Ernst „den Glauben“ hochhalten. Das hier praktizierte wortwörtliche Verständnis der Bibel (evangelisch) und der Fürwahrhalte-Glauben lässt die Kirche in der modernen Welt aus der Zeit gefallen und zunehmend lächerlich erscheinen. Auf katholischer Seite entspricht dem die Autoritätshörigkeit der Amtsträger, die unbedingt systemkonform sein müssen, aber nicht religiös.
  3. (Selbst)Kritik hat in den Kirchen keine Tradition, sie bleibt unüblich, ist nirgendwo etabliert, eher verpönt. Kritische Anmerkungen gelten schnell als Störung, als Nestbeschmutzung, als offensichtlich unerwünschte Verunsicherung. So bleibt man weiter beim Gewohnten, das sich ja scheinbar zeitlos fortschreibt. 

Für die Kirchen ist ein kritikloser Kurs fatal. Offenbar hat man vergessen, dass das Christentum sich in hohem Maße der religiösen Inspiration der Propheten verdankt, dass Jesus drastische Polemiken gegen Religionsvertreter und religiöse Bräuche vorbrachte und die Lebendigkeit der Religion immer wieder durch Ketzer und Reformatoren hergestellt wurde. 

So kommt es, dass auf dem sinkenden Schiff niemand an eine Generalsanierung denkt, oder daran, einen Hafen aufzusuchen, oder wenigstens einmal die Boote ins Wasser zu lassen. Man rückt enger zusammen, sieht aber keinerlei Notwendigkeit zu grundsätzlichen Überlegungen. Wenn man die vielen kirchlichen Äußerungen zu Reformen durchgeht, dann wird deutlich: nirgendwo geht es um religiöse Fragen, nirgendwo kommen die heutigen Menschen vor. Immer geht es um Traditionsbewahrung und Strukturreformen äußerer Art.

Einen mehr als deutlichen Beleg liefert da der bis vor kurzem noch führende Theologe der EKD-Kirchenleitung, Thies Gundlach: „Gegen Demographie, Säkularisierung und Individualisierung ist kein Kraut gewachsen.“ Wie blind muss man sein, um nicht zu sehen, dass der Großteil an Religiosität längst aus den Kirchen ausgewandert ist? Die religiös interessierten Menschen bekommt die Kirche aber gar nicht mehr in den Blick, solange sie sich nur mit der Kirchen-Mitgliedschaft beschäftigt. Umstandslos behauptet man, dass die Kirche angesichts zunehmender Religionsdistanz gar nichts machen könne. Das Problem liege allgemein in einem „Werteverfall“ und speziell in der „Überalterung“ der Gesellschaft. Eine frappierende Selbsttäuschung mit drastischen Folgen – die auch von der eigenen Unfähigkeit zu einer modern verständlichen Religion ablenkt.

Die Individualisierung, deren Freiheiten man außerhalb der Kirchennischen für sich selbst in jeder Hinsicht gern in Anspruch nimmt, wird da wie eine religiöse Fatalität behandelt. Dass die zentralistisch-autoritäre Kirchenführung des Katholizismus keine religiöse Individualität schätzt, ist nicht überraschend. Aber auch in der vermeintlich moderne-offeneren protestantischen Kirche wird übersehen, dass sie selbst einmal als „Religion der Individualität“ bezeichnet wurde (Ernst Troeltsch), und dass ihr Gründervater Martin Luther die Selbstverantwortung des einzelnen Individuums ins Zentrum der christlichen Religion stellte: „Wenn ich nicht mit Gründen der Vernunft und der Hl. Schrift überzeugt werde, so bin ich in meinem Gewissen gebunden … Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“ – so die berühmten Schlusssätze seiner Rede 1521 in Worms. Ich, ich, ich! Damit war das religiöse Gewissen an die Stelle eines vorgegebenen Religionssystems getreten; eine Idee, die den größten kulturellen und sozialen Umbruch der gesamten abendländischen Geschichte eingeleitet hat. 

Hat man in der Kirche noch eine Erinnerung an jenen Jesus von Nazareth, der stets auf den einzelnen Menschen zuging? Nie hat er einen geformten Lehrglauben vorgegeben, eine religiöse Praxis vorgeschrieben, in eine vorgegebene Gemeinschaft eingewiesen. Immer sah er die Not und die Würde des einzelnen Individuums. Religionsgeschichtlich steht dieser Jesus für die Individualisierung der Religion schlechthin: Alles, was einst zwischen dem Volk Israel und Gott passierte, liegt jetzt zwischen Gott und dem einzelnen Menschen.

Der durchgehende Traditionalismus der Kirche wird verstärkt durch die zunehmende Unfähigkeit zum symbolischen Denken und das Fehlen einer Symbolisierungskunst für das gegenwärtige Leben. Auch wenn es vielen (den meisten?) Kirchenvertretern persönlich längst klar ist, dass religiöse Aussagen symbolische Aussagen sind, so fehlt es doch an einer klaren Benennung dieses zentralen Sachverhalts. Dass die Weihnachtserzählung eine Legende, die Trinität ein Symbol und die Schöpfungserzählung ein Mythos ist, wird nicht ausdrücklich benannt. Doch bei echter Frömmigkeit handelt es sich keineswegs um ein wörtliches Verstehen. Dennoch lässt man in den Gottesdiensten das uralte Glaubensbekenntnis nachsprechen, nach dem Jesus in die Hölle nieder- und in den Himmel aufgefahren ist: die alte mythische Dreistockwerkewelt scheint einfach weiter zu bestehen. Auferstehung als Symbol? – diesem Gedanken möchte man sich am besten nicht weiter stellen. So aber stärkt man in der Kirche die evangelikal-fundamentalistischen und autoritätshörigen Tendenzen und erweckt in der Außenwahrnehmung den Eindruck, das ganze Christentum sei dem Inhalt nach ein überholtes Märchen, der sozialen Struktur nach eine Sekte. 

 

  1. Muntere Beiboote

Eine lebendige Religion weiß: In der Religion geht es nicht um Religion. Und schon gar nicht um Ethik. Sondern: um das Leben. Religion ist in erster Linie symbolische Lebensdeutung. Sie geht von den lebensweltlichen Erfahrungen und Fragen der Menschen aus und stellt diese in symbolischer Form in einen übergreifenden deutenden Kontext. Die Bibel macht es vor: die Klage eines Psalmisten oder die Befreiung Israels aus der Knechtschaft sind keine religiösen Ereignisse, sondern Lebenserfahrungen, die jeder nachvollziehen kann. Religiös werden sie, indem sie symbolisch – in Geschichten, Mythen, Ritualen usw. – auf Gott bezogen werden. Das zeigt deutlich: das Christentum weiß, wie es geht.

Die Kirche hat also durchaus das im Angebot, was Menschen heute so sehr suchen: Sinnerfahrung, Orientierung und intensives Erleben. Auch die Gemeindechristen und das Kirchenpersonal sind genau deshalb in der Kirche, weil hier irgendwann einmal eine tiefe und prägende Erfahrung gemacht wurde. Doch dieses tiefe Erleben, seine symbolische Deutung und seine Kommunikation finden inzwischen im Hauptschiff der Kirche nicht mehr statt, sondern mittlerweile vor allem in den kirchlichen Beibooten. Sie sind es, die das Christentum derzeit lebendig halten. 

Während der kirchliche Schiffbruch in eine beängstigende Phase eintritt, gibt es eine ganze Reihe von flott fahrende Beibooten, die die Menschen längst nutzen. Das sind die spirituellen Angebote zwischen Pilgern, Kloster-Auszeiten, Fastenpraxis und Meditation. Es sind die meist nächtlichen und mit starkem atmosphärischem Gehalt agierenden alternativen Gottesdienste, die oft große Scharen anziehen. Es ist der Kirchentag, an dem Menschen sich aus einem großen Angebot das auswählen, was sie individuell anspricht.

Besonders gut sichtbar ist das an den nach wie vor attraktiven Taizé-Andachten. Sie ermöglichen es dem Einzelnen, sich in Bild, Wort, Musik und Atmosphäre einzuschwingen in ein tieferes Erleben. Typisch dafür ist, dass die Gesänge so lange gehen, wie man eben Lust hat, und dass man in der Taizékirche so lange bleibt, wie es einem gut tut. Ich werde nie vergessen, wie auf dem Kirchentag in Hannover 2005 eine riesige Menschenmenge einer Taizé-Andacht beigewohnt hat: ein Sommerabend, eine große Freitreppe, die Menschen saßen auf den Stufen. Es herrschte eine kaum mit Worten zu beschreibende Atmosphäre von tiefer Ruhe und starker Präsenz. Die meditativen Gesänge, die sehr schlichte Art des Redens, die Ikonen erzeugten einen Eindruck von Sammlung und Konzentration, in den man sich regelrecht fallen lassen konnte.

In diesen Beibooten stehen die Lebensfragen und die Erlebnissehnsüchte der Menschen im Zentrum, und sie sind hier nicht nur „Aufhänger“ für Predigt und religiöse Bildung. Und genau hier, und eben nicht mehr im Hauptschiff, wird die Kirche ihrem eigenen Auftrag treu. Der ist nämlich nicht Verkündigung oder sakramentale Heiligkeitsverwaltung! Sondern: Lebensdeutung, die sich auf tiefes Erleben bezieht. Wo immer Menschen auf existenzielle Erlebnisse und Fragen und deren Deutung stoßen, werden sie angerührt. Umgekehrt gilt: Religionsdistanz entsteht vor allem dort, wo die Kirche nicht den Menschen mit seinen Erlebnissen, Sehnsüchten und Fragen sieht, sondern nur ihre Traditionen weiterpflegt.

Die Logik der Beiboote kann man sich mit dem Theologen Friedrich Schleiermacher klar machen. Er hat Religion als ein Gefühl verstanden, das aus intensiver Wahrnehmung heraus entsteht. William James hat 1901 aus religiösen Erlebnisberichten das Wesen lebendiger Religion eindrucksvoll beschrieben. Rudolf Otto führte diese Idee 1917 mit seinem Buch „Das Heilige“ fort, Paul Tillich verstand Religion als das, was den Menschen „unbedingt angeht“. Im Zentrum aller Religion steht hier das „subjektive religiöse Erleben“ – und nicht ein uniformer „Glaube“, nicht einmal eine allgemeine Gottesvorstellung. Nur im tiefen Erleben ist Religion lebendig. Das lässt sich an allen Großen der Religionsgeschichte studieren, und diese Einsicht ist modern plausibel und anschlussfähig. Dass diese epochale Neubewertung der Religion das kirchliche Denken nie wirklich verändert hat, belegt noch einmal die Traditionsverhaftung der Kirche – und die übergangene religiöse Individualisierung.

Es geht im Christentum um die Eröffnung eines Blickes, um das Gefühl, dass sich meine ganz konkrete Lebenswelt allen Brüchen, Schmerzen und Zwangsläufigkeiten zum Trotz – am besten und sinnvollsten als Reich Gottes verstehen lässt. Religion ist eine Haltung, keine Überzeugung – dafür hat Jesus mit seinen Gleichnissen geworben. Das Leben ist Gabe Gottes, kostbar, eine schiere Heiligkeit. Glaubenstraditionen sind sinnvoll, wenn sie eine Zuordnung für diesen Blick ermöglichen, aber sie sind Deutungen von Erfahrungen, also Medien, Brücken und Gefäße, und nicht selbst schon lebendige Religion. 

Genau dort, wo in der Kirche nicht die Glaubenstradition, sondern religiöse Erfahrung lebendig wird, ist die Kirche heute attraktiv. Im Hauptschiff gilt das noch für die Karfreitagsandacht zur Todesstunde Jesu, für die Ostermorgenfeier, den Weihnachtsgottesdienst – höchst eingeschränkt aber für die kirchlichen Routinen.

Und es gilt für das größte Beiboot: die Kirchenmusik. Sie zieht mehr Menschen in die Kirche als jede Gottesdienstform. Auch am aktiven Kirchenleben sind es die Kirchenchöre, die die größte Beteiligung von allen kirchlichen Gruppenformen überhaupt aufweisen. Die EKD allerdings gibt für Kirchenmusik weniger als ein Fünfzigstel ihres Gesamthaushalts aus … und genau hier soll auch weiter gespart werden. Gleiches lässt sich angesichts der stark frequentierten, doch immer weniger finanzierten Angebote der Evangelischen Erwachsenen- und Familienbildung feststellen. Das ist nicht nur religionsblind und selbstschädigend; es geht vor allem an dem vorbei, was Menschen existenziell und religiös brauchen.

Die Beiboote wären inzwischen in der Lage, das leck geschlagene Kirchenschiff mindestens ans nächste Dock zu schleppen – wenn nicht gar den Kirchenkurs selbständig zu übernehmen. Doch auch gut gefüllte Beiboote bleiben bisher Beiboote, sie ändern nichts am kirchlichen Kurs. Die Kirchen bleiben traditionsverhaftet, sie pflegen ein Museums-Christentum, gehen am Menschen und seiner Religiosität vorbei – und meinen damit ihrer Sache treu zu sein.

  1. Geistige Generalsanierung

Die Aufgabe der Kirche ist eine religiöse, keine ethische. Sie hat für die symbolische Deutung der Existenzfragen zu sorgen und sie in einen übergreifenden Kontext zu stellen. Dafür muss sie die Menschen kennen und ernst nehmen. Die Inhalte der kirchlichen Arbeit sind nicht die Niederschläge religiöser Deutungen von einst, sondern die Erfahrungen und Fragen der Menschen heute. Religiöse Traditionen gehören als Deutungsgrammatik in die Köpfe (und Herzen) der Profis, sie sind aber keine zu verkündigenden und lehrbaren Inhalte.

Wenn die Kirche wieder Anschluss finden will an das Leben und die Religion der Menschen, dann muss sie ihre munteren Beiboote nicht nur vorn ans Schiff setzen und sich von diesen ziehen lassen, sondern weitgehend in diese übersiedeln. Sie, die bunt und generationsübergreifend frequentierten, sozialräumlich präsenten und lebensweltlich ausgerichteten Einrichtungen müssen endlich den Kurs bestimmen: beim Menschen ist zu beginnen, anders wird das kirchliche Christentum seinem Ruf als Religion der Liebe nicht mehr gerecht.

Existenzielle Erlebnisse und Fragen der Menschen sind der Stoff und der Ausgangspunkt kirchlicher Arbeit. Mit Hilfe kirchlicher Sakralräume, der Kirchenmusik, spiritueller Techniken und natürlich auch mit Hilfe der Bibel- und Glaubenstradition sollten diese Erfahrungen und Fragen in einen übergreifenden und orientierenden Kontext gestellt werden. Dringend zu entwickeln wäre daher eine vitale religiöse Kommunikation, die die autonomen Menschen konstitutiv mit einbezieht, und die ihre lebensgeschichtlichen Fragen und Erfahrungen zur Geltung kommen lässt. Dafür muss sich vor allem das kirchliche Denken deutlich ändern, aber auch der kirchliche Gestus des „wir haben die Wahrheit für alle“. So wäre die Kirche nicht nur endlich wieder beim Menschen, sondern auch bei ihrer eigentlichen religiösen Aufgabe. Und so wäre sie auch höchst attraktiv.

 

https://www.waxmann.com/index.php?eID=download&id_artikel=ART105053&uid=frei