Religion begreifen I

Ästhetische Zugänge zur Religion

 

Religion zu begreifen heißt zunächst und grundlegend, sie zu greifen, also: zuzugreifen, sobald religiöse Szenerien sich anbieten oder auftun. Greifen und begreifen hängen, wie jeder an kleinen Kindern sehen kann, eng zusammen. Im Greifen von Dingen lernen wir immer auch, Bezug zu uns selbst herzustellen, was gleichbedeutend ist mit dem Erleben von Bedeutung. Paul Tillichs Definition der Religion als dessen, was mich angeht, nimmt genau diesen Gedanken auf.

Wenn Religion Bedeutung schlechthin ist, Bedeutung aber Sache des (Be)greifens, dann hat der Protestantismus doch mehr Ahnung von Religion, als man gemeinhin annimmt. Im Abendmahl sieht er seit Luther das ”sichtbare Zeichen” von Gottes entgegenkommender Liebe, das man in die eigene Hand nehmen kann.

Angesichts eines nachhaltig funktional geprägten Denkens ist Religion hierzulande eine fast unbekannte Größe geworden. Der christliche Sinn von Weihnachten ist 16% der deutschen Schüler bekannt; nach einer eindrucksvollen Untersuchung von Holger Oertel (”Gesucht wird: Gott?”, Gütersloh 2004) ist die Orientierung an der Wirklichkeit bei Jugendlichen durchgehend und geradezu beeindruckend eindeutig eine naturwissenschaftlich-positivistische; das durchschnittliche Bild unserer Gymnasiasten vom Christentum ist das einer mittelalterlichen Magiepraxis. Zugleich und dennoch gibt es eine große unterschwellige Sehnsucht nach Religion.

Der alte Weg, von theologisch geklärten Wahrheiten aus zu religiösem Begreifen, d.h. zu religiöser Erfahrung und Selbstverortung zu leiten, scheint heute versperrt. Der lernende bzw. entdeckender Zugang zur religiösen Erfahrung muss heute voraussetzungslos sein. Er geschieht darum nicht mehr (primär) lehrend und reflexiv, sondern über die unmittelbare Evidenz der sinnlichen Wahrnehmung: ästhetisch. Sinne und Sinn (d.h. die Fähigkeit der Bedeutungs-Zuschreibungen) sind für die Symbolisierungen der Religion zentral. Das klingt neu, ist es aber gar nicht: der christliche Geist mit seinem verrückten, zu aller berechnenden Ökonomie quer liegenden Blick auf das Leben wurde schon immer weit eher durch Räume, Liturgien, Mysterienspiele und Bilder begriffen als durch Lehren.

Sinnliche Zugänge zur (christlichen) Religion zu schaffen ist darum die primäre Aufgabe der Theologie. Darum wird die Religionspädagogik zu deren strukturierenden Zentrum. Religiöses Lernen wird zum primären theologischen Anliegen und löst darin die inhaltshermeneutische dogmatische Selbstklärung der christlichen Tradition ab. Vor aller reflexiven Selbstvergewisserung muss die Bedeutung der Religion öffentlich, für die Menschen ebenso wie für die religiöse Kulturtradition, verstehbar bleiben. Das heißt vor allem, dass Phänomene der Religion als solche benannt werden. Und es heißt weiter: Neben die analytisch-hermeneutische Beleuchtung von Religion und Kultur (Fundamentalismus, Religion in der Populären Kultur, civil religion usw., also die ”religiöse Kulturhermeneutik”) tritt vor allem die Aufgabe einer Gestaltung von Zugangsmöglichkeiten zur Religion, die ein religiöses ”Begreifen” im umfassenden Sinne ermöglichen. Auch wenn die aufgeführten Szenen und die in ihnen enthaltenen Erfahrungen nicht direkt herstellbar sind, so sind sie doch anzubahnen, d.h. zu präsentieren und zu inszenieren. Nur so kann es zur mimetischen Anverwandlung der Religion kommen, und zur Möglichkeit, sich ins Leben hinein zu entwerfen.

Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 57 (2005)

 

Der Zugang zur christlichen Religion (d.h. ihre Wahrnehmung und Aneignung) ist in weit höherem Maße atmosphärisch, d.h. sinnlich konturiert, als das die rational-diskursiv verfahrende akademische Theologie je wahrhaben wollte. Darum blieben die Wirkungsprinzipien christlicher Didaktik lange unbeachtet und sind bis heute kaum bekannt. Unreflektiert blieb auch, dass Gemeinde- und Sakralräume, aber auch Gottesdienste eine schlechte Atmosphäre haben, oder eine schlecht inszenierte Liturgie ebenso peinlich wirken können wie die laienhafte Aufführung eines Dramas.

Der Zugang zur Religion und die Möglichkeiten religiöser Erfahrung, Darstellung und Kommunikation sind in hohem Maße atmosphärisch bedingt. Ein beliebiger Kirchenraumes etwa erschließt sich in weit intensiverem Maße über die Wahrnehmung seiner Atmosphäre als über historische und kunstgeschichtliche Daten; jeder vollzogene Kultus (vor allem der Gottesdienst, aber auch Kasualie und Andacht) führt eine bestimmte Atmosphäre mit sich; das christliche Weihnachtsfest ist für die überwiegende Mehrzahl der Menschen nicht Feier eines historischen Ereignisses oder eines dogmatischen Gehalts, sondern individuell erlebte und erinnerte Atmosphäre, zu der jeweils eine Fülle von subjektiven Dimensionen gehören. Genau diese subjektiv-unverrechenbaren Perspektiven auf das Leben und die Welt gehören wiederum zu den Grundthemen der Religion. Denn Religion macht zum Thema, nicht wie die Welt und das Leben geworden oder zusammengesetzt sind, sondern wie sie gesehen und aufgefasst werden können.

Die religiöse Musik spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Sie spiegelt von Anfang an einen Reflex auf die alte Erfahrung, dass die Welt zu ”klingen” vermag. Neben der himmlischen Musik der Engel hörten religiöse Ohren schon immer eine Sphärenmusik (modern gewendet: ”Die Welt ist Klang”, J. Behrens unter Verwendung einer hinduistischen Formel). Der Klang ist neben Raum, Sprache und spiritueller Praxis der gewichtigste religiöse atmosphärische Phänomen-, und auch Ausdrucksbereich. ”Musik und Dichtung sind die ersten Stabilisatoren im Prozeß des religiösen Bestimmt-Werdens, weshalb die Religionstheorie an ihnen das größte Interesse nehmen sollte” (H. Timm, Zwischenfälle 69).

Praktisch-theologisches Handbuch für Kirchenmusik