Emotionale Zugänge zur Religion
„Wenn es die Wirklichkeit der Religion ist, durch einen entsprechenden Zeichengebrauch konstituiert zu sein, dann … wird Religion lehrbar durch Anleitung zu diesem Zeichengebrauch, der im kulturellen System der Religion geübt wird.“ (Gräb 1996, 72)
Dieser scheinbar banale Satz stellt die herkömmliche Form religiösen Lernens auf den Kopf. Nicht Inhalte oder Lehren sind es, die religiöses Lernen ausmachen, sondern ein „Zeichengebrauch“: wer Religion verstehen und sich aneignen will, muss ihre Symbole, Bilder und Rituale verstehen und nachvollziehen können. Darin unterscheidet sich religiöses Lernen vom allgemeinen Lernen. Dieser Unterschied wird in der bisherigen Religionsdidaktik und selbst bei ihren eingeführten Formen allenfalls implizit bedacht, noch kaum aber eigens bearbeitet. Wie aber wird ein Mensch eigentlich religiös? Wie entsteht religiöses Interesse? Und welche Rolle spielt dabei die „vorhandene“ Religion, also die religiöse Tradition?
Dazu kommt die grundsätzliche Frage: was ist eigentlich Lernen, wie geschieht es? Hier ist klar: Lehren und Lernen sind zweierlei! Was gelernt wird, hängt ab vom Lernklima, der inneren Einstellung usw. Wirkliche Einsicht, ohne die es keine echte Religion gibt, kann kaum direkt gelehrt werden, sie erfolgt subjektiv sehr verschieden nach Situation und Vorerfahrung, oft spontan und ungeplant. Für die Religion ist das ganz besonders wichtig: Emotionen, Existenzerfahrungen, Betroffenheiten werden sehr verschieden erlebt und jeweils anders aufgefasst; das gilt zum Teil selbst für einfache Informationen. Wie also geschieht Lernen? Wie lassen sich Möglichkeiten und Wege der Aneignung beschreiben?
Lernen
Lernen ist ein Grundvorgang des menschlichen Lebens. Es geschieht bei Kindern zunächst als Wahrnehmen von Atmosphären, dann als Be-Greifen, später als Zuordnen zu bereits Erfahrenem, dann erst als Abstraktion. Das gilt entgegen verbreiteter Annahme nicht nur genealogisch, sondern generell. Es ist klar, dass im Erwachsenenalter das abstrakt-rationale Denken das Lernen dominiert – allerdings bleiben Lernen und vor allem Erfahrungen (d.h. Lernen von Einsichten, die die Person betreffen) nach wie vor in hohem Maße an Wahrnehmung und Emotion gebunden. Lernen geht, wenn es die Person betrifft, immer über kognitive Prozesse hinaus in Bildung über. Lernen gibt es nicht ohne Motivation, die Beteiligung der Phantasie und den Aufbau von Bedeutung.
Wer Lernen verweigert, wird unbeweglich und alt. Deshalb spricht man heute vom lebenslangen Lernen – was oft allerdings nur noch Informationen und flexible Einstellung auf neue Situationen meint, also ökonomisch verzweckt ist, an den Grundbedürfnissen des Menschen vorbei geht und entsprechend anstrengt. Übersehen wird da eine pädagogische Grundeinsicht: Lernen ist grundsätzlich mit Lust verbunden. Denn Neugier ist dem Menschen angeboren und macht Freude: das zeigt das kindliche Spiel und jedes Experimentieren, Ausprobieren und Tüfteln. Das Leben wird schal, wo Neugier und Begeisterung erlahmen oder nicht befriedigt werden. Das gilt ebenso für jedes Begreifen: der „Aha-Moment“, der die „kognitive Dissonanz“ auflöst, macht ebenso Freude wie jede gedankliche Ordnung und jedes Geschick. Darum gilt umgekehrt: Interesse und Motivation sind die Grundbedingungen für die Verarbeitung von Information. Sie hängen von der inneren Einstellung (Lernmotivation und innere Bereitschaft oder Stress-Blockaden), der Lernatmosphäre (Personen, Raum, Zeit) und von reizvollen Angeboten und Präsentationen ab.
Lernen ist ein Aneignungsprozess, bei dem Umweltreize und interne Verarbeitungsreaktionen zusammenspielen. Es gibt zwei Grundtypen von Lerntheorien. Zum einen die behavioristische, die von der klassischen Konditionierung (nach Pawlow) ausgeht und Reize als Bedingungen für assoziative Verknüpfungen versteht; Lernen gilt hier als Informationsverarbeitung durch Herstellen von Verbindungen. Zum anderen die Theorie der kognitiven aktiven Organisation, die die innere Beteiligung hervorhebt. Sie bezieht sich auf Jean Piaget, der das kognitive Lernen als „Äquilibration“ (d.h. als Ausgleich und Herstellen einer Balance) von „Akkumulation“ (Angleichung des Verstehens an das, was erfahren wird) und „Assimilation“ (Angleichung des Lerninhalts an das eigene Begreifen) beschreibt. Lernen geschieht aber vor allem „am Modell“. Der Mensch ist ein „reflexiv-epistemiologisches Subjekt“ (Bandura), d.h. er lernt in der Regel durch unbewusste Nachahmung, also durch spontane Reaktion auf Personen, Szenen, Dinge usw.; so kommt es zu Übernahmen und Identifikationen.
Auffällig an den Lerntheorien ist, dass die Rolle der Motivation oft nur als Nebensache behandelt wird. Lernen sollte aber nicht nur die Verarbeitung von „Information“, sondern vor allem die Änderung von Einstellungen beschreiben, denn nichts hat so weit reichende Folgen für das Begreifen und Leben insgesamt wie diese. Gelernt werden nicht nur Kognitionen und Verhaltensmöglichkeiten, sondern eben auch Einstellungen! Das ist offensichtlich höchst bedeutsam für das Begreifen und Nachvollziehen von Religion. Darum muss man sich klar machen, dass Betroffenheit der Beginn jeden Lernens ist, sei sie als mimetische Angleichung verstanden, als angeregtes Interesse oder als echtes Erstaunen. Betroffenheit ist weiter die Bedingung dafür, dass Dinge eine (subjektive) Bedeutung erhalten, ohne die unser Verstehen ebenso leer bleibt wie unser Weltbezug und unser Lebensgefühl. Bedeutungen im umfassenden Verständnis sind ein Äquivalent für die Erfahrung von Sinn.
Sinnvolles Lehren (also: eine gute Didaktik) versucht darum den Erfahrungsbezug zu beachten und vor allem einen Entdeckungsweg zu eröffnen, weil so Neugier stimuliert und Lernen als bedeutsam erfahren wird. Aus Lernpsychologie und Neurobiologie wissen wir heute, dass das menschliche Gehirn kein Ablageschrank ist. Lernen ist ein hoch komplexer Vorgang, der als Ausbau von Vernetzungen geschieht. Reine Rationalität gibt es nicht. Sie beruht immer auf Abstraktionsvorgängen, an denen Gefühle, Stimmungen und Atmosphären beteiligt sind. Diese werden bei jedem Lernen mit-codiert, sie lassen sich nur künstlich und im Nachhinein voneinander trennen. Darum sollte Lernen immer möglichst mehrkanalig geschehen, keinesfalls nur kognitiv.
Gelernt wird nur, was auch „abgespeichert“ werden kann. Ob das geschieht, hängt weitgehend von inneren Strukturen und Ordnungsschemen ab, über die die Lernenden entweder bereits verfügen, oder die ihnen mit dem zu Lernenden mitgeliefert werden. Lehrende müssen darum immer Vernetzungsmöglichkeiten schaffen, Assoziationen bereitstellen, an bereits bestehendes Wissen, Können, Einstellungen und Erfahrungen anknüpfen und vor allem Zuordnungsmöglichkeiten und Strukturen „mitliefern“, und keine Wissensaddition und -anhäufung betreiben. Sie sollten Lernatmosphäre und Motivation durch Beachtung von Raum, „Klima“, Zeit, Pausen, kreativen und spielerischen Elementen usw. sehr bewusst gestalten. Welche Bedeutung Assoziationen für das Lernen haben, zeigt das folgende instruktive Beispiel: Ein Kind, das beim versonnenen Malen Wasser verschüttet und von der nervösen Mutter eine Ohrfeige bekommt, lernt: ‘Malen ist gefährlich!’ Es wird jetzt möglicherweise keinen Spaß am Malen mehr haben (Vester 1975, 44).
Darum ist das Wissen um Lernblockaden durch negativen Stress ein didaktisches Grunderfordernis. Stress ist die Ausschüttung von Hormonen, die bei störenden, befremdlichen oder erschreckenden Wahrnehmungen geschieht – ein sinnvoller biologischer Mechanismus, der den Körper bei Gefahr schlagartig für Kampf oder Flucht präpariert. Das Blut wird dem Gehirn und dem Magen-Darmbereich entzogen und läuft dort hin, wo es gebraucht wird: in die Muskeln, deren Spannung sich erhöht. Angeborene Reiz-Reaktionen sorgen für die richtigen Bewegungen. So kommt es bei Schrecken zu Gesichtsblässe, Zittern, Herzklopfen usw., bei anhaltendem Stress zu Darmproblemen und Infarkten. Auslöser von Stress sind heute kaum noch akute Gefahrensituationen, sehr viel mehr aber Bedrohungen, die ganz unterschwellig bewusst sein können. Bereits das Ticken eines Weckers im Schlaf löst Stresshormone aus. Mehr noch geschieht das bei Unruhe durch innere Anspannung und äußeren Druck oder unbewältigte Probleme, oder etwa durch eine depressive Lebenseinstellung; oder natürlich durch (Lern)Situationen, die als schwierig, fremd, überfordernd erlebt werden, und erst recht natürlich in Prüfungssituationen. Dann kann es zum gefürchteten „Black out“ kommen, der am besten natürlich durch körperliche Betätigung abzubauen wäre. Höchst bedenklich erscheint angesichts der nachhaltigen Individualisierung die Erkenntnis der Neurobiologen, dass der Entzug sozialer Unterstützung und der Wegfall zwischenmenschlicher Beziehungen den höchsten Stressfaktor überhaupt darstellen. Darum wirken stabile menschliche Beziehungen dem Stress entgegen, ferner das Gefühl von Übersicht, bewusste Entspannung, Kreativität und Bewegung.
Sinnvolles Lernen wird also gefördert durch den Einbezug von Gefühlen und Erfahrungen, durch die Transparenz des Lerninhalts auf seine Struktur hin und auf seinen Sinn (– wie häufig ist das in unseren Schulen anders!), durch die angenehme Gestaltung der Lernatmosphäre, durch mehrfache Annäherungen und Zugänge, schließlich durch Beteiligung und selbstgesteuertes Arbeiten, wodurch Neugier und Motivation erhöht werden. Auch für die eigene Strukturierung des Lernens kann man eine Menge tun: Ordnung durch Übersicht am Arbeitsplatz, feste zeitliche Abläufe und Pausen, Abschirmung vor fremden Einflüssen, thematische Übersicht durch Skizzen (Mind–Maps) usw. vermindern Stress ebenso wie den Aufwand an Energie, den man zum Arbeiten braucht; ebenso natürlich Bewegung und die Verfolgung vielfältiger Interessen. Nach wie vor spannend und ausgezeichnet beschreibt diese Zusammenhänge Frederic Vester (1975 und 1976).
Was ist ein religiöser Lernprozess?
„Auch heute … laufen religiöse Lernprozesse nur da letztlich nicht ins Leere, wo sie aus der Distanz des Zur-Kenntnis-Nehmens von Religion irgendwann und irgendwie hinüberführen in die ‘Leidenschaft des Religiösen’ und schließlich einmünden in eine Form personal integrierter Religiosität. Religiöses Lernen muß mehr sein als ein Gang durch das ‘Mausoleum der Religion’.“ (Englert in EvErz 49/1997, 150)
Die scheinbar banale Frage nach dem religiösen Lernprozess und seinem „irgendwann und irgendwie“ hat ein bedeutendes religionspädagogisches Gewicht. Herkömmlich fand religiöses Lernen durch die lehrende Weitergabe eines (gebündelten) religiösen Wissens oder Verhaltens statt, in der Regel durch den Katechismus. Der Katechismus aber kann totes Wissen sein, eine Kunst-Erfahrung etwa kann dagegen religiös bedeutsam sein. Denn Religion ist alles, was den Menschen „unbedingt angeht“ (Paul Tillich).
Wie also entsteht Religiosität? Grundsätzlich durch die Übernahme und Nachahmung religiöser Gehalte und Vollzüge; diese Übernahme geschieht faktisch lange bevor sie bewusst und beabsichtigt ist, durch mimetische Angleichung (mimesis, griech = Nachahmung), d.h. durch mehr oder weniger unbewusste Angleichung des Verhaltens und auch des Empfindens an bestimmte Vorgänge und vor allem an Bezugspersonen und deren religiöses Verhalten. Das erklärt, warum die Eltern, die Religionslehrer und das Spiel so bedeutsam und folgenreich sind für religiöses Lernen. Nicht die Gehalte also, sondern die mit ihnen verbundenen und durch sie ermöglichten Betroffenheits– Erfahrungen sind es, die wirkliche Religiosität entstehen lassen. Darum müssen Erfahrungen die Grundlage bewusster religiöser Lernprozesse sein, die in einen religiösen Kontext gestellt und in ihm gedeutet, oder aus diesem Kontext als bereits gedeutete übernommen werden.
Religionsdidaktisch gilt es also, bedeutsame Erfahrungen aufzuspüren, anzubieten, anzubahnen, zu gestalten und zu reflektieren. Geschehen kann das natürlich in allen Bereichen des Lebens, denn selbst ein simpler kognitiver Inhalt kann eine emotional besondere Erfahrung auslösen. Vorwiegend aber wird das im Bereich der Religion selbst geschehen.
Das bloße Informiertsein über die Gehalte der Religion reicht in der Regel keineswegs aus für ein echtes religiöses Lernen, oder gar für die Ausbildung von Religiosität. Nachdenken über Religion leistet das schon eher; es kann sich nämlich mit einer bestimmten Sicht auf die Welt und das eigene Leben verbinden, möglicherweise also mit einer religiösen Überzeugung (einem Glauben, der allerdings sehr Verschiedenes meinen kann: abstraktes Interesse, fundamentalistisches Denken oder Lebensvertrauen). Am ehesten findet echtes religiöses Lernen im religiösen Handeln statt, das neben diakonisch–menschlichem, helfenden Verhalten vor allem spirituelle Praxis ist: Gebet, Gottesdienstbesuch, Meditation usw. Solche Praxis ist in der Regel Folge einer inneren Überzeugung – kann diese aber oft auch erst herstellen. Alle diese Komponenten sind planmäßig lern– und beeinflussbar; jeder Bereich kann je für sich trainiert werden.
Der innerste motivierende „Kern“ eines religiösen Lernprozesses ist eine Grund-Erfahrung, die einen Menschen so trifft oder berührt, dass sich ihm eine neue Sichtweise auf das Leben und die Welt erschließt und sich dadurch seine gesamte Haltung verändert; eine solche Einstellungsänderung ist fast immer verbunden mit einer Veränderung des Verhaltens. In diesem Sinne kann die Kernbotschaft des Jesus von Nazareth, sein Ruf zur Umkehr angesichts der Nähe Gottes (Mk 1,14), als Aufforderung zur Totalveränderung der Lebenseinstellung verstanden werden. Der Begriff „meta–noete“, der hier gebraucht ist, bedeutet nicht „Buße“, sondern neue Sicht, Meta–Perspektive und Bewusstwerdung. Offensichtlich beruht dieser Aufruf selbst auf der Grunderfahrung Jesu, dass angesichts der Nähe Gottes das Leben ganz anders, leicht, frei, selbstverständlich und unbeeindruckt von falschen Rücksichten sein könnte; das Leben ist geschenkte Fülle und voller ungeahnter Möglichkeiten. Der häufige und gewichtige Satz: „Dein Glaube hat dir geholfen“ ist im Übrigen nicht auf religiöse Lehren, Autoritäten, Priester, nicht einmal auf Gott bezogen; er meint schlicht den Lebens-Glauben eines Menschen.
Solche Ur-Erfahrungen liegen auch den anderen großen Religionen zu Grunde. Sie werden von den Menschen intuitiv als höchst bedeutsam erkannt, können sie doch Menschen und das Leben einer Gemeinschaft völlig verändern. Darum werden diese Erfahrungen aus verständlichem Grund entsprechend durch Traditionen und Institutionen geschützt – durch heilige Texte, Lehren, Regeln, Personen, usw. – und oft sind sie gar Anlass zur Gewalt. In den Gestaltungen der Religion kann deren ursprüngliche Kernerfahrung immer wieder neu freigelegt, entdeckt und angeeignet werden. Die sekundären Gestaltungen der Religion können diese Erfahrung freilich auch ersticken und pervertieren, besonders dann, wenn sie sich selbst als sakrosankt (unberührbar und absolut heilig) setzen, wie das im historischen Lauf der Religionen nur allzu oft geschieht. Um die religiöse Begeisterung neu anzufachen, müssen Heilige, Reformatoren und Ketzer auftreten, Menschen also, die die Ur-Erfahrung der Religion in besonderer und zeittypischer Weise erneuern.
Religionspädagogik, aus Kapitel 13