Religion begreifen III

Existentielle Zugänge zur Religion


Subjektorientierte Religionspädagogik geht von der modernen Religionsdeutung im Sinne Friedrich Schleiermachers aus, die Religion als subjektive Erfahrung versteht. Sie setzt auf lebenspraktische Evidenz. Sie verabschiedet sich endgültig nicht nur vom Glaubenlernen, sondern von allen scheinbar allgemein gültigen religiösen Wirklichkeitsbehauptungen. Damit geht sie auch weg von einer religionsdidaktischen Inhaltsorientierung, ohne dabei freilich in Ethik oder in Theologie auszuweichen.
Damit soll konzeptionell gebündelt werden, was längst zum Anliegen vieler Religionsdidaktiker geworden ist, in der Praxis freilich aus pragmatischen Gründen oft genug in eine Diskussion von Einzelthemen oder in eine überholte Stoffvermittlung zurückfällt. Die Lernenden sind die Subjekte der religiösen Deutungs- und Kommunikationspraxis. Inhalt religiöser Pädagogik sind die Beteiligten selbst. Das gilt zumindest prinzipiell. Ebenso wie in anderen Fachbereichen behalten Informationen, stoffgebundene Erkundungen und auch Übungen natürlich ihr bleibendes Recht. Sie werden nun allerdings aus der Sicht subjektiver Erfahrung heraus aufgeschlüsselt und im Horizont der je eigenen Lebensdeutung verhandelt.

Alle Gehalte, Aussagen und Gestaltungsformen der Religion sind konsequent als Medien zu betrachten – was ihrer Würde keineswegs Abbruch tun muss. Als Medien religiöser Vergewisserung und bewährter Deutung sind sie allzu oft kaum ersetzbar. Sie dürfen sich aber nicht als die Sache selbst verstehen, wenn sie nicht als langweilig, altbekannt oder gar befremdlich eingestuft werden wollen.

Das „Subjekt“ bezeichnet dabei schlicht den Menschen im Gegenüber zu den Vorgaben von Tradition, Autorität, Gemeinschaft oder übergeordneter Verpflichtung. Subjectum (lat.) heißt wörtlich: „unterworfen“. Damit spielt die Wortbedeutung auf den Widerfahrnischarakter all dessen an, was der einzelne Mensch erlebt und worin er sich vorfindet. Diese begriffliche Unterscheidung stellt ein autonomes „Individuum“ idealtypisch einem bezogenen und von Erfahrung geprägten „Subjekt“ gegenüber.

In eine vergleichbare Richtung hatte bereits Dietrich Bonhoeffer in einer seiner hellsichtigen Bemerkungen aus dem Tegeler Gefängnis gedacht: „Wir müssen lernen, die Menschen weniger auf das, was sie tun und unterlassen, als auf das, was sie erleiden, anzusehen.“ Was ist das, was Menschen erleiden, was sie „unbedingt angeht“ (Paul Tillich)? Diese Frage wird für eine subjektorientierte Religionspädagogik zur Schlüsselfrage. Sie spricht die Menschen bei ihrer potenziellen Religiosität an, ohne sie dabei religiös zu vereinnahmen.

Existenzfragen, Sinnfragen und deren Deutungen lassen sich nicht in rationaler Sprache kommunizieren. Sie sind auf mythologische, bildhafte Sprache bleibend angewiesen. In diesem Sinne sind auch die christlichen Lehren von Trinität, Christologie, Sünden-Erlösung usw. Mythen. Deren rationale Ausdeutung führt heute in Selbstmissverständnisse und in eine innerreligiöse Sprachlosigkeit. Und sie wird von den allermeisten Menschen – und, wie empirisch belegt: selbst von den meisten Gläubigen! – längst abgelehnt. Daher wäre der Mythos gerade nicht zu überwinden und aufzugeben, sondern als Mythos zu kommunizieren. Andernfalls schlägt eine wörtlich genommene Mythologie, genau so wie das magische Denken der katholischen Volksfrömmigkeit, in sektenähnliche Zustimmung weniger Insider einerseits, in totale säkulare Ablehnung der Mehrheit andererseits um – wie es derzeit vermehrt geschieht. Man stößt sich an einer wörtlich aufgefassten Mythologie.

Subjektorientierte Religionspädagogik will schlicht die religiöse Autonomie des Menschen ernst nehmen und sie produktiv machen. Sie geht davon aus, dass sich eine selbstverantwortete Religion (bzw. eher: Religiosität) kaum noch durch die unbefragte Übernahme von Vorgaben ausbildet. Sie muss dagegen Lebensdeutung, also eine symbolische Repräsentation von Lebensfragen sein, die sich aus dem unmittelbaren eigenen Erleben heraus ergibt. Sie geht von der evidenten Beobachtung aus, dass die grundlegenden Lebenserfahrungen und Existenzfragen allgemein verständlich und von hohem Interesse für moderne Individuen sind. In ihrer Orientierung an dem, was Menschen konkret und unbedingt angeht, sieht sie gerade nicht die Tendenz zur Vereinzelung, sondern sie setzt auf das urmenschliche Bedürfnis nach Darstellung, Mitteilung und Austausch.
Subjektorientierte Religionspädagogik geht davon aus, dass Sinn und Nutzen von Religion erst durch die Einsicht in ihre subjektive Deutungsleistung klar werden. Der Sinn religiösen Lernens wäre es demnach, nicht nur gestaltete Religion (bzw. religiöse Tradition), sondern vor allem ganz allgemein bedeutsame Lebenserfahrungen in persönlich stimmige und relevante Religiosität zu überführen. Die religiöse Kultur stellt dafür in sehr vielen Fällen einen stimmigen Ausdruck und eine plausible Deutung zur Verfügung; und sie profitiert selbst von einer solchen lebendigen Symbolisierung.

Eine ganze Reihe existenziell bedeutsamer Fragen – nach partnerschaftlicher Liebe, Einsamkeit, Sehnsucht, dem Bösen, dem Körper, aber auch nach Erfolg, Schönheit und Stärke – werden im kirchlichen Christentum und in der wissenschaftlichen Theologie kaum thematisiert. Diese Fragen sind weitgehend in die Popkultur ausgewandert, wo vor allem die beiden drängendsten Fragen nach der Liebe und dem Bösen zur Darstellung kommen.

Die Lebens-Fragen, nicht religiöse Fragen oder Themen, bilden also den religionspädagogischen Kontext. Existentielle Erfahrungen sind eine conditio humana. Deren Kommunikation zeigt in aufschlussreicher Weise, dass sich die Differenz zwischen Menschen mit religiöser und mit nichtreligiöser Selbsteinschätzung, ebenso wie die zwischen Religiösen, Sinnsuchern und Religionsdistanzierten tendenziell verflüssigt.

Subjektorientierte Religionspädagogik, Kapitel 3