Ein Kind liegt auf einer Wiese und hört dem Zirpen der Grillen zu. Es beobachtet, wie Mücken über ihm hin- und herschweben und sieht die Wolken am Himmel. Die Gräser wachsen in diesen Himmel hinein. Die Dimension weitet sich: es entsteht ein Gefühl der Geborgenheit und der Zusammengehörigkeit allen Lebens. Ein Moment vollkommener Stimmigkeit. Dieses Kind muss nicht nach dem Sinn fragen.
Was ist eigentlich sinnvoll? Eine erste, einfache Antwort ist: Alles, was mit den Sinnen als stimmig erfahren wird. Was im Übrigen auch heißt: der Sinn ist eine Erfahrung, und keine Theorie, die man übernehmen könnte.
Inzwischen wird immer häufiger nach dem Sinn des Lebens gefragt. Wozu mache ich das eigentlich? Was soll das überhaupt alles? … Solche Fragen zeigen, dass der Sinn zum Problem geworden ist. Solange das Leben seinen Gang geht und im Fluss ist, wird es als sinnvoll erfahren. Dann stellt sich die Frage nach dem Sinn gar nicht. Wo sie gestellt wird, ist der Sinn bereits mehr oder weniger verloren gegangen. Die Erfahrung der Sinnlosigkeit aber ist der Ernstfall der Existenz.
„Nicht konkrete Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Partnerverlust, sondern das absolute Risiko eines sinnlosen Lebens ist der eigentliche Bezugspunkt des verbreiteten Pessimismus und Verfallsdenkens. Nichts kennzeichnet die Moderne tiefenschärfer als die Suche nach dem (verlorenen) Sinn. Sinnfragen aber sind die Fragen der Religion.‟ (Wilhelm Gräb) Dieses „absolute Risiko‟ ist eine Folge des analytischen Denkens, das nicht das Leben als ganzes, sondern seine verwertbaren und nutzbaren Bestandteile erkennt. Wenn z.B. gefragt wird, was ein Spatz wert ist, dann kann das analytisch-rationale Kalkül das mit wenigen Euro angeben. Also: sehr wenig – vorausgesetzt, man denkt nicht vernetzt (also im Sinne der Verbundenheit des Lebens) und bringt auch ökologische und ästhetische Dimensionen des Vogels in Anschlag.
Die Religion denkt da sehr anders. Sie begreift das Leben nicht als eine Zusammensetzung von Einzelteilen, oder als Rohmasse, die man gestalten und nutzen kann, sondern als Ausdruck der Üppigkeit, des Überflusses, des Überschwangs. Das ist, wie alles in der Religion, entscheidend eine Frage der Perspektive. Wie sehe ich das? Ist der Spatz für mich ein ökologischer oder gar nur ein ökonomischer Faktor, oder ein Ausdruck der Schönheit und des Überschwangs des Lebens? An einem Spatzen kann einem Menschen durchaus der Sinn des Lebens aufgehen.
Die Schönheit hat in der Religion daher einen herausgehobenen Stellenwert, und einen weit größeren als die Moral. Das lässt sich in den Dogmatiken überhaupt nicht, in der religiösen Kultur dagegen allerbestens nachvollziehen. Alles Religiöse, das zum Ausdruck wird, ist Kunst. Ihre Sprache ist poetisch und emotional, ihre Gebäude und Liturgien sind opulent, ihre Töne und Gewänder sind prunkvoll. Das ist alles andere als Zufall. Denn die Schönheit ist der erste und beste Hinweis auf den Wert der Dinge, auf ihre umfassende Bedeutsamkeit. Schönheit trägt ihren Sinn in sich selbst. Sie ist ein Ausdruck dafür, dass die Dinge – alle Dinge – mit Liebe betrachtet werden, und nicht mit den Maßstäben der Leistung.
Wenn Jesus von den Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf dem Feld spricht, verweist er damit auf den Vollzug des Lebens und seinen Ausdruck: auf Schönheit. Sie steht für das nicht Planbare, das nicht Berechenbare und Funktionalisierbare. Genau das ist das Sinnvolle: Was Bedeutung hat für sich selbst.
Funktionalität und Bedeutung – und mit ihr auch Würde, Respekt, Achtung und Erstaunen – sind Antipoden. Ebenso ist das mit dem Haben und dem Sein, oder mit dem „interesselosen Wohlgefallen“ (Kant) und der Zweckdienlichkeit. Was ich dem Nutzenkalkül unterstelle, wird an seiner Tauglichkeit gemessen. Damit verliert es seinen unbedingten Wert, wird unter bestimmte Maßstäbe gebeugt und wird vor allem ersetzbar. Was dagegen seinen Wert in sich selbst hat, das hat dadurch auch Wert und Würde. Das zu erkennen, braucht es allerdings einen bestimmten Blick und eine bestimmte Haltung, die den Dingen ebenso wie den Menschen und dem Leben überhaupt mit Respekt begegnet.
In der Religion ist dieser Blick sozusagen zu hause. Jede Religion ist eine Deutungskultur, d.h. sie schult einen bestimmten Blick auf das Leben und die Welt – unabhängig davon, in welche genauere Perspektive sie die Dinge dann rückt. Dass die Dinge einen Wert in sich selbst und darin eine unbedingte Bedeutung haben, will ja erst einmal wahrgenommen sein.
Die Religion schult den wachen Blick. Dieser wache Blick auf die Dinge bedeutet eine Würdigung der Dinge, die deren Bedeutsamkeit nicht nur wahrnimmt, sondern ihnen oft genug auch erst einmal zuspricht. Darum hängt eine echte Religiosität nicht an einem Glauben, sondern an wachen Sinnen. Sie ist Sache des Blicks, der Perspektive, der Wahrnehmung. Hört! Seht! Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Wer Ohren hat zu hören, der höre!
Aus: Leben eben! Religion für Sinnsucher – eine Anleitung.