Was ist eine sinnvolle Lebensorientierung heute?
Ein Interview
Gesehen werden, bewundert werden, gefragt sein: Das sind Werte, die heute zählen. Sich etwas nicht leisten zu können, stellt Zugehörigkeiten infrage. Wenn das Telefon einen Tag lang nicht klingelt, regt sich ein Gefühl des Verlassenseins. – Wollen wir so wirklich weiterleben? fifty sprach mit Professor Dr. Joachim Kunstmann. Er lehrt Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten und ist Referent im Philosophischen Café in Gauting bei München.
FIFTY: Die reife Generation mischt in den Medien immer mehr mit. Die Bilder zeigen selbstbewusste und kraftvolle Menschen. Sehen Sie eine Trendwende weg vom Jugendwahn?
Eine Trendwende ist das keineswegs, aber den Menschen wird bewusst, dass sich in unserer Lebensorientierung etwas verändern muss. Insofern liegt hier die große Chance, dass existenziell wichtige Themen, die in der Konsumgesellschaft wenig Platz haben, wieder salonfähig werden. Es kann aber durchaus sein, dass der starke Narzissmus der Jüngeren nun auch zum Thema des Älterwerdens wird. Und damit würden dann schon wieder Erwartungen geschürt – jung bleiben, fit bleiben, schön und erfolgreich bleiben usw.
FIFTY: Was ist so falsch dran, jugendlich oder fit bleiben zu wollen?
Daran ist nichts falsch. Ich möchte nur eine Gefahr benennen: Immer mehr Menschen bemühen sich auf Biegen und Brechen um Jugendlichkeit und Dynamik, weil sie sich dazu gedrängt fühlen. Weil das alle so machen, und weil Erfolg oberste Lebensmaxime ist. Dynamik um jeden Preis aber führt zu psychischer Überforderung und vermehrt das Gefühl von Unzufriedenheit und innerer Leere. Das ist angestrengte Sinnlosigkeit. Und es lässt wenig Raum für substanzielle Lebensfragen.
FIFTY: Welche Lebensfragen meinen Sie?
Das sind die Fragen, die quer zu der allgegenwärtigen Erfolgs- und Bedürfnisorientierung liegen. Das Leben hat nun mal noch andere Dimensionen als Leistung und Konsum. Geld zu verdienen und Bedürfnisse zu befriedigen, diese beiden Themen bestimmen immer ausschließlicher das ganze Leben. Das trägt oft schon Züge einer Sucht. Man will schnell, viel, das Beste haben, man arbeitet, erlebt und genießt ohne Pause. Konkurrenz wird zum Schlüsselphänomen, auch beim Konsum – aber Konkurrenz auszuhalten kostet viel Energie. Dadurch wachsen Angestrengtheit und innere Unruhe immer weiter. Zwar bemerken viele Menschen, dass eine solche Lebenseinstellung sie auf Dauer nicht von einer hartnäckigen Unzufriedenheit befreit, doch sie wissen nicht, wie sie das ändern sollen. Nachdenkliche Themen wie Liebe, Umgang mit Schmerz, Sinn des Lebens hatten bisher nur in der Hochkultur Platz, also im Roman, im Theater oder in philosophischen Diskursen sowie in der Psychoszene.
FIFTY: Kann es sein, dass man seinen Zeitgenossen heute mit Sinnfragen auf die Nerven geht? Immerhin leben wir in einer Welt der unbegrenzten Wahlmöglichkeiten, und jeder ist für die Gestaltung seines Lebens selbst verantwortlich.
Das stimmt. Jeder lebt inzwischen als seines eigenen Glückes Schmied – was aber auch heißt: Lass mich in Ruhe mit deinen Fragen. Jeder hat genug zu tun mit sich selbst. Die Sinnfragen werden aber nicht kleiner, nur weil wir so viele Freiheiten haben. Im Gegenteil. Schauen Sie sich die Filmkultur der letzten zehn Jahren an. Immer häufiger haben Filme Erfolg, die nachdenklich und fragend sind. Happy Ends helfen nicht weiter. Scheitern, Misserfolge, Opfer, die Suche nach Sinn werden zu zentralen Themen.
Im wirklichen Leben wollen wir nicht gern zu denen gehören, die scheitern oder sich als Opfer fühlen.
Das gehört zu unserem fatalen Anspruch, perfekt zu sein. Dabei wäre die entscheidende Frage: Was verleiht dem Leben Tiefe? Viele verwechseln den Begriff „Tiefe“ mit „Ernst“ oder „Düsterkeit“ – und laufen davor weg. Am meisten die, die sich ihren Terminplan lückenlos vollstopfen. Oder auch diejenigen, die Angst vor dem Ruhestand haben. Auf keinen Fall leere und ungenutzte Zeit lassen! Denn sobald man mit sich allein ist, machen sich Unzufriedenheit, Leere und Einsamkeit breit.
FIFTY: Was verstehen Sie denn unter „Tiefe“?
Das sind Erfahrungen, die einen Menschen unbedingt angehen, die von zwingender Bedeutung für ihn sind. Sie könnten ihm seinen Weg besser weisen als die Orientierung an den gängigen Lebensstandards. Mitverantwortlich für das Ausweichen vor diesen Themen sind die Medien, denn sie präsentieren so gut wie alle ihre Inhalte als Bedürfnisbefriedigung und Unterhaltung. Und wir als Mediennutzer gehen nicht kritisch genug damit um. Weder Berieselung noch die Ideologie des Alles-Selber-Machens – „Du schaffst es! Du musst es nur wirklich wollen!“ … – tragen einen Menschen durchs Leben. Deshalb die Flut an Ratgeber-Literatur bzw. -Sendungen. Es gibt heute für alles eine Anleitung – nur nicht dafür, wie man sinnvoll und zufrieden leben kann.
FIFTY: Aber auch dafür gibt es doch Seminare, Selbstfindungs-Reisen und dergleichen. Bringt das in Ihren Augen nichts?
Diese Angebote sind eher Symptome der beschriebenen Not. Hilfe bringt das nur im Einzelfall. Man braucht sehr viel Zeit, Besinnung und Gespür, um zu wissen, was das eigene Leben erfüllt.
FIFTY: Wie kann man sich frei machen von dieser erfolgsorientierten und konsumfreudigen Welt, ohne ein Eremit zu werden?
Meine Antwort wird wohl niemandem gefallen. Sie lautet: Enthaltsamkeit. Damit meine ich nicht den Verzicht auf kulinarische oder erotische Genüsse, nicht einmal den Verzicht auf Erfolg und Konsum selbst. Sondern ein Überdenken der eigenen Konsumhaltung. Ob das beim Fernsehen, bei Reisen oder beim Autokauf ist, oder – vor allem! – bei der eigenen Zeitplanung. Klug wäre es, wenn man Verzicht nicht als selbstknechtende Askese betrachtet, sondern wenn man ihn so kultiviert, dass man ihn genießen kann.
FIFTY: Sie meinen jetzt nicht die Zeitgenossen, die sich mit ihren zur Schau getragenen Verzichtsleistungen als Spaßbremse betätigen?
Selbstverständlich nicht. Verzicht zu kultivieren heißt ja nicht, ihn an die große Glocke zu hängen. Denken Sie zum Beispiel an die Menschen, die Karriere gemacht und jede Menge Geld verdient haben, und die sich trotz bester Erfolgsaussichten aus dem Geschäftsleben verabschieden, um ihrem Leben eine neue Orientierung zu geben. Das geschieht oft ganz leise. Mir geht es manchmal so, dass ich bei einem Gang durch ein Kaufhaus feststelle, wie wohltuend es ist, keine Kaufentscheidung treffen zu müssen. Ganz einfach, weil ich nichts brauche. Oder weil ich allmählich merke, dass der Kauf der vielen tollen Dinge, die man haben könnte, nichts an meinem persönlichen Lebensglück ändern wird. Was ich damit sagen will: Man verliert nicht, wenn man verzichtet. Man gewinnt: Leichtigkeit, Besinnung, Zeit. Etwas „nicht nötig zu haben“ ist Ausdruck von Souveränität.
FIFTY: Wenn Sie sich die Geschehnisse rund um die Finanzkrise ansehen – fühlen Sie sich da nicht wie ein Prediger in der Wüste? Gier kann man überall antreffen, ganz egal, ob Menschen sich zu einer Religionsgemeinschaft bekennen oder ob sie sich als Atheisten bezeichnen.
Ich unterscheide zwischen Gläubigen und Ungläubigen anders, als das viele Kirchenvertreter tun würden. Gläubige sind für mich nicht einfach Menschen, die irgendeine religiöse Praxis haben, sondern eher diejenigen, die Vertrauen ins Leben haben und begeisterungsfähig sind. Die wissen, dass man nicht alles selbst machen kann, sondern dass einem das meiste geschenkt wird. Die ein Gespür dafür haben, dass das Leben unendlich wertvoll ist – egal, ob man das in der Natur, im Gespräch mit Freunden oder beim Lesen eines Buches erfährt. Der tiefste Sinn der Religion ist für mich, auf diese Dimension des Lebens hinzuweisen.
fifty 1 (2009), 18/19